SOMEX Short Paper 2 – „Zwischen Erwartung und Ermahnung: Qualitative Inhaltsanalyse von Geschlechterkonstruktionen islamistischer Online-Akteurinnen“
Veröffentlicht am 18. Dezember 2024.
Wie konstruieren weiblich gelesene islamistische Social Media-Accounts Gender(-errollen)? Welche Bedeutung haben dabei (traditionelle) Vorstellungen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“? Mit welchen Erwartungen, Handlungsaufforderungen und Konsequenzen werden Abweichungen verknüpft? Diesen Fragen widmet sich das zweite Short Paper im Projekt SOMEX: „Zwischen Erwartung und Ermahnung: Qualitative Inhaltsanalyse von Geschlechterkonstruktionen islamistischer Online-Akteurinnen“.
Aus der Forschung zu verschiedenen extremistischen Milieus ist bekannt, dass Antifeminismus, Frauenfeindlichkeit und der Bezug auf ein traditionelles Frauen- und Familienbild extremistischen Gruppierungen phänomenübergreifend als Brückennarrativ dienen. In den Social-Media-Beiträgen männlicher islamistischer Akteure werden häufig Vorgaben und Erwartungen an Frauen adressiert. Narrative, die Männlichkeit und Weiblichkeit im Phänomenbereich islamistischer Extremismus konstruieren, erscheinen in der gegenwärtigen Forschung als widersprüchlich; sie schwanken zwischen der Darstellung von Frauen als schutzbedürftig und als Kriegerinnen im Dschihad. Die Forschung bewegt sich hier teilweise in denselben Extremen wie die öffentlichen Narrative über Frauen im Bereich des Islamismus. Über die Art und Weise wie weibliche islamistische Akteurinnen auf Social Media Geschecht(-erkonstruktionen) selbst thematisieren ist bislang wenig bekannt. Um die bestehende Forschungslücke, die insbesondere für den deutschsprachigen Online-Bereich besteht, zu füllen, wurden für die vorliegende Publikation analysiert, ob und wie weiblich gelesene, islamistische Accounts Geschlecht(-errollen) auf TikTok, Instagram und Telegram.
Vorgehen
Zur Analyse der subtilen Bedeutungsnuancen, die bei der Konstruktion von Geschlechter(-rollen) zentral sind, bedarf es einer intensiven qualitativen Auseinandersetzung mit dem Material. Mit der Methode der Qualitative Inhaltsanalyse wurden die Beiträge in Bezug auf Geschlechterkonstruktionen untersucht und induktiv ein Kategoriensystem mit drei Ebenen erstellt. Das Team von SOMEX hat dazu über 1.100 Instagram- und TikTok-Beiträge von insgesamt rund 40 Accounts ausgewertet und kategorisiert.
Ergänzt wird dies durch ein Themenmodell zu Beiträgen islamistischer Akteurinnen auf Telegram, welches in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft »Gegen Hass im Netz« erstellt wurde. Dieses Modell wurde basierend auf den häufigsten und spezifischsten Wörtern, die die Akteurinnen verwenden, erstellt und ergänzt die Analyse um eine weitere Plattform und Analysemöglichkeit.
Ergebnisse und Empfehlungen
Die Ergebnisse zeigen, dass in vielen Beiträgen auf „Geschlecht“ und damit assoziierte Erwartungen und Rollen eingegangen wird. Dies verdeutlicht die Relevanz dieser Kategorie in der Kommunikation islamistischer Akteurinnen. Dabei wird Geschlecht stark binär dargestellt und ist auf (traditionelle) Weiblichkeit bzw. Männlichkeit limitiert. Auffällig im Hinblick auf die Konstruktionen von Geschlecht ist, dass die untersuchten Beiträge deutlich häufiger Bezug auf Weiblichkeit als auf Männlichkeit genommen haben. Charakteristisch für die überwiegende Mehrheit der Beiträge war, dass die Rollenvorschriften bzw. -vorstellungen für Frauen und Männer grundlegend unterschiedlich waren, sich jedoch nicht etwa widersprachen, sondern ergänzten. Abweichungen von den geäußerten Erwartungen wurden nicht selten mit moralischem Druck oder (sozialen) Sanktionen verknüpft.
Die Funktion, die rigide Geschlechterkonstruktionen auch, aber nicht nur, im Kontext extremistischer, anti-pluralistischer und anti-demokratischer Ideologien haben, wurde im Rahmen der Diskussion herausgearbeitet. Erstens dienen die Bezüge dazu, klare (patriarchale) Rollen zu definieren, die einerseits vermeintliche Handlungssicherheit suggerieren, andererseits aber bevormundend, einschränkend und belastend sein können. Zweitens wurde eine deutliche Unterscheidung in eine moralisch überlegene „In-Group“ und eine verkommene, verachtenswerte „Out- Group“ vermittelt. Drittens wurden Bedrohungsszenarien u. a. für die „klassische“ Familie durch eine „verdorbene“ moderne Gesellschaft konstruiert, die Dringlichkeit vermitteln und auf eine Emotionalisierung der Rezipient*innen abzielen.
Die Ergebnisse verweisen damit auf die Notwendigkeit eines breit angelegten, interdisziplinären Ansatzes der sowohl die Funktionsweise der jeweiligen Social Media-Plattformen als auch die Rezeptionsbedingungen von Nutzer*innen in den Blick nehmen muss, um etwaige Attraktionsmomente nachvollziehen zu können. Dabei ist ein intersektionaler Blick, der diskriminierungssensibel vorgeht, statt stigmatisierende Fremdzuschreibungen zu reproduzieren, von besonderer Bedeutung. Weitere Implikationen sowie Empfehlungen werden im Fazit der Publikation ausführlicher diskutiert.