Das Modellprojekt On|Off DERAD verfolgte das Ziel, radikalisierungsgefährdete bzw. bereits in einem Radikalisierungsprozess befindliche Jugendliche und junge Erwachsene über das Soziale Netzwerk Facebook zu erreichen. Denn heutzutage sind radikalisierungsgefährdete Jugendliche weniger leicht im öffentlichen Raum anzutreffen wie noch vor zwanzig Jahren. Konzepte der aufsuchenden Jugendarbeit und der Straßensozialarbeit müssen angesichts des veränderten Kommunikations- und Vernetzungsverhaltens von jungen Menschen um jene Ansätze erweitert werden, die die Kontaktaufnahme auch im Online-Bereich ermöglichen.
Da dabei staatliche und nicht-staatliche Akteure der Radikalisierungsprävention bei dem von radikalen Gruppierungen vorgelegten Tempo strukturbedingt nicht mithalten können, kann der Online-Ansatz der Prävention nicht darin bestehen, Masse mit Masse zu bekämpfen.
Vielmehr muss die Frage gestellt werden, welche Bedürfnisse bei den jungen Menschen vorliegen, durch die sie sich online mit extremistischen Inhalten beschäftigen (wollen). Daraus folgt, dass man diesen Bedürfnissen, nachdem man sie iden- tifiziert hat, sowohl online als auch offline begegnen muss.
Vor diesem Hintergrund wurde jungen Menschen auf Facebook in einem ersten Schritt ein virtuelles Gesprächsangebot unterbreitet, das nach Etablierung eines Online-Dialoges durch die Möglichkeit einer Offline-Kontaktaufnahme ergänzt werden konnte.
Die angestrebte Arbeitsbeziehung sollte zu einer Auseinandersetzung mit Extremismus und Ideologie führen, um einen Distanzierungs- und / oder Ausstiegsprozess aus einer drohenden oder aber schon begonnenen Radikalisierung zu initiieren – bevor sich Ideologien soweit verfestigen, dass sie zur sozialen Abschottung oder Gewaltausübung führen.
Die Auswertung der Daten aus dem Phänomenbereich islamistisch begründeter Extremismus nach Themenclustern legt die Schlussfolgerung nahe, dass Projekte im Social-Media-Bereich mit emotional formulierten Posts aus den Themenbereichen Wissen, Aktuelles und Alltag innerhalb der Zielgruppen am meisten Interaktionen und Reichweite generieren. Die Aufmerksamkeit zumindest extremer Nutzer*innen kann über eine Steigerung der Reichweite geweckt werden. Sie beteiligten sich dann vor allem an Interaktionen mit Themen der Cluster Gender und Aktuelles.
Der Fokus werbefinanzierter Maßnahmen sollte schwer- punktmäßig auf „Like-Kampagnen“ bzw. vergleichbaren, die organische Reichweite und Fanbasis der Facebookseite unterstützenden, Maßnahmen liegen, anstatt auf inhaltlichen Thematiken, da hierdurch die Community nachhaltig und stabil wächst und so der Bekanntheitsgrad des Angebots innerhalb der Zielgruppe stetig erweitert werden kann.
Persönlichkeit, Gemeinschaft, Gerechtigkeit
Von den pädagogischen MitarbeiterInnen aus der Praxis werden immer wieder drei zentrale Merkmale angeführt, die die Attraktivität des extremistischen Milieus auszeichnen: Persönlichkeit, Gemeinschaft und der Anspruch auf Gerechtigkeit.
Seit langem werden diese drei Merkmale mit hoher Profes- sionalität von den diversen Akteur*innen des extremistischen Spektrums in den Sozialen Medien verwirklicht. Glaubhafte mediale Antworten auf das Bedürfnis nach Persönlichkeit, Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind daher eine zentrale Herausforderung an zukünftige Aktionsspielräume von Online-Projekten: Können charismatische Botschafter*innen eingesetzt werden, die ähnlich überzeugend wirken wie die radikalisierenden Extremist*innen und die Idole der extremistischen Popkultur? Diese Personen benötigen nicht nur Zivilcourage, sondern wegen ihrer Exponiertheit gegebenenfalls Schutz vor Angriffen aus den extremistischen Milieus. Ist es zielführend 1:1 strategisch auf diese Präsenz zu antworten oder setzt man lieber auf viele kompetente authentische Stimmen, die vielfältige, auch kontroverse Ansichten und Herangehensweisen repräsentieren? Können glaubhafte Angebote von sozialer Gemeinschaft geschaffen werden, die persönlichen Halt und Solidarität bieten, wenn man diese in einer Lebenskrise sucht oder dringend benötigt?
Extremistische Communities bieten an zahlreichen Orten schnelle solidarische Hilfe und Gemeinschaft an, in denen sich Hilfesuchende spontan geborgen fühlen können. Der anschließende Schritt dahingehend, sich völlig auf die Regeln dieser Gemeinschaft einzulassen, fällt dann häufig leicht. Wie kann man dagegen Hilfestellungen für ein Leben in einer stark individualistisch geprägten Gesellschaft mit weniger verbindlichen Gemeinschaftsformen bieten, die unzweifelhaft auch Vorteile hat?
Wie die Erfahrungen im Projektverlauf zeigen, müssen Online-Angebote, um dieser Herausforderung zu begegnen, sowohl holistisch in ihrem Angebot (z. B. Hilfestellung und Beratung zu allen Problemen der Zielgruppe unter einem z. B. theologischen Schirm), als auch schnell verfügbar und jederzeit erreichbar sein. Eine hohe Visibilität ist unerlässlich, da besonders Jugendliche das erste Angebot, auf das sie treffen, ansehen und im Zweifel annehmen. Bildlich gesprochen muss also ein weites Netz gespannt werden, um bereits früh präventiv einzugreifen. Sobald das Individuum mit einer Gruppierung in Kontakt gekommen ist und beginnt, sich mit dieser zu identifizieren, wird es immer schwieriger, eine alternative Gemeinschaft zu bieten.
Themenwahl
Auch in der Themenwahl besteht ein sehr schmaler Grat im politischen, wie auch im islamisch-theologischen Feld. Kann ein mit staatlichen Geldern finanziertes Projekt tatsächlich ein überzeugendes Forum bieten, in dem sämtliche Themen frei diskutiert werden dürfen, die im Milieu des islamistischen Extremismus zu den zentralen Anklagepunkten gegen den Westen gehören? Zentrale Themen sind z. B. der Nahost-Konflikt, der Syrien-Konflikt, die Situation in der Türkei, Ägypten oder muslimischen Regionen Zentralasiens.
Wie neutral kann eine Auseinandersetzung mit islamischen Lehrmeinungen und extremistischen Deutungen geführt werden?
Zudem können durch rechtliche, ethische und moralische Beschränkungen Themen oft nicht auf die gleiche Weise genutzt werden, wie extremistische Gruppierungen dies tun.
Argumentations- und Herangehensweise
Typisch für die religiöse Argumentation auf vielen islamistischen Portalen ist eine Referenz auf die zentralen Quellen des Islam: Koran und Sunna. In den Sozialen Medien entsteht daraus häufig ein Suren-, Hadith- und Fatwa-Pingpong, bei dem Quellen und Referenzen gegeneinandergesetzt werden.
Antwortet man ebenfalls nach dieser Methode, indem man die sehr selektive Auswahl und Argumentation extremisti- scher Webseiten nur um eine eher repräsentative Auswahl der Quellen und Referenzen erweitert?
Damit weist man bei gleicher Methode die Vielfalt und Diskussionskultur der unterschiedlichen Interpretation über Jahrhunderte nach.
Oder geht man sogar noch einen Schritt weiter und lenkt den Blick auf innovative, aktuell diskutierte Methoden unter mus- limischen Intellektuellen und Gelehrten, was zum Beispiel eine textkritische und hermeneutische Herangehensweise an Koran und Sunna betrifft. Die besondere Herausforderung besteht hier, mit gut begründetem Sachverstand die theolo- gische Vielfalt der islamischen Traditionen, Rechtsschulen und Philosophie sowie ihrer Methoden zu berücksichtigen.
Erwartungen
Extremistische Angebote in den Sozialen Medien haben mit ihren Kommunikations- und Argumentationsmustern auf Seiten der jugendlichen Zielgruppe vermehrt zu einer spezifischen Erwartungshaltung geführt, wie eine Antwort auf eine Frage aus ihrer Lebensrealität auszusehen hat, um akzeptiert zu werden. Häufig wird in der Kommunikation der Wunsch geäußert, dass ein deutliches Ja oder Nein oder ein eindeutiges Verbot oder Gebot zu Fragen ausgesprochen wird.
Zudem wird oftmals erwartet, dass Fragen in bestimmten Formaten und Argumentationsweisen geklärt werden, die nach traditionellen Methoden ausgerichtet sind und stark vom extremistischen Spektrum propagiert werden. Das Projektteam wird quasi in die Rolle einer theologischen Autorität/Instanz gerückt, die den Fragenden die Entscheidungen abnehmen soll.
Übersicht
Laufzeit: 4|2016 – 3|2018
Projektleitung: Sebastian Ehlers
Kontakt: info@violence-prevention-network.digital
Dieses Projekt wurde finanziert aus Mitteln des ISF, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt im Rahmen des Berliner Landesprogramms Radikalisierungsprävention, mit Mitteln des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport) sowie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Die Veröffentlichungen stellen keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor/die Autorin bzw. tragen die Autoren/die Autorinnen die Verantwortung.